Reform des § 218
Wir wünschen uns über die Frage der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs eine ausführliche und offene Debatte im Deutschen Bundestag über Fraktionsgrenzen hinweg. Als im Kern medizinethische Frage sollte diese Diskussion der üblichen parlamentarischen Logik von Koalition und Opposition entzogen sein. Derartige Fragen werden in Deutschland regelmäßig im Wege sogenannter Gruppenanträge abseits der normalen Fraktionsdisziplin beantwortet. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht. Das gilt besonders angesichts der komplexen Abwägungsfragen zwischen den Grundrechten der betroffenen Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens, aber auch mit Blick auf die Rechte betroffener Ärztinnen und Ärzte sowie der werdenden Väter.
Wie bei jeder medizinethischen Frage gibt es auch hier keine einfache Antwort. Es gibt vielmehr verschiedene Meinungen mit sehr guten Argumenten. Wir kommen zum jetzigen Stand unserer persönlichen Abwägung zu dem Schluss, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden sollten.
Viele Frauen empfinden es nachvollziehbarerweise als Widerspruch zu ihrer Selbstbestimmung über den eigenen Körper in einer höchstpersönlichen Frage, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland auch in den ersten zwölf Wochen – entgegen einer weit verbreiteten Auffassung – eben nicht legal, sondern vielmehr rechtswidrig und nur straffrei sind. Wer in einer derart schwierigen Lage ist, sollte nicht zusätzlich der Belastung ausgesetzt sein, potenziell eine Straftat zu begehen. In diesen Situationen wollen wir ungewollt Schwangeren die Möglichkeit geben, selbstbestimmt eine Entscheidung zu treffen und diese auch rechtmäßig umsetzen zu können. Jede Frau, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, trifft eine der schwersten Entscheidungen ihres Lebens und diese niemals leichtfertig.
Einer solchen Neuregelung außerhalb des Strafgesetzbuches wird oft entgegengehalten, dass mit dem rechtlichen Status quo eine langjährige Streitfrage höchstrichterlich befriedet wurde. Dieses Argument nehmen wir sehr ernst. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass es heute zu ganz praktischen Problem kommt: Denn mit Sorge stellen wir fest, dass sich die medizinische Versorgungssituation von Frauen, die einen Abbruch durchführen lassen möchten, dramatisch verschlechtert hat. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, halbiert. Vor allem in ländlichen Regionen gibt es mitunter kaum Anlaufstellen für Betroffene. Solche Schwierigkeiten belasten die Frauen in einer emotional ohnehin extrem schwierigen Situation zusätzlich. Zudem führt die Rechtswidrigkeit auch dazu, dass ungewollt Schwangere vor der 12 Schwangerschaftswoche nicht ohne Weiteres mit einer Übernahme der Kosten durch Krankenkassen rechnen können. Schließlich sollten die medizinische Aus- und Weiterbildung gewährleistet und die unterschiedlichen medizinischen Möglichkeiten bekannter gemacht werden. So finden zum Beispiel in Skandinavien 90 % der Abbrüche medikamentös statt, in Deutschland aber nur etwa 20 %.
Wir wollen das ungeborene Leben schützen. Das Schutzkonzept, nach dem die Einhaltung einer Frist von zwölf Wochen samt einer Beratungspflicht die Rechtmäßigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs begründen, muss daher auch außerhalb des Strafrechts aufrechterhalten werden. Wir möchten uns in der kommenden Legislatur mit den hier erläuterten Reformvorschlägen an einem Gruppenantragsverfahren beteiligen, das die skizzierten Regelungen vorsieht, die Grundrechtsabwägungen mit Blick auf die zu erwartende höchstrichterliche Überprüfung gründlich vornimmt und nach ausführlicher Debatte und Wägung im Parlament zur Abstimmung kommt. Einem solchen Antrag würden wir zustimmen.
Zum Instrument eines Gruppenantrags gehören aber auch regelmäßig lange Zeiträume der Beratung – Zeiträume des echten Nachdenkens, des Zuhörens und des individuellen wie öffentlichen Abwägens. Deshalb halten wir es für falsch, jetzt kurz vor Ende einer Legislaturperiode ein komplexes Gruppenantragsverfahren in gänzlich außergewöhnlicher Eile durchzuführen. Diese Frage sollte besser in Ruhe beraten werden. Ein Beschluss eines Bundestags in Auflösung zöge absehbar auch nicht die nötige Befriedung dieser schwierigen gesellschaftlichen Debatte nach sich. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass der rechtliche Status quo besser dann verändert werden sollte, wenn die Wahlkampfzeit vorüber ist.
In anderen Ländern zeigt sich, wie sehr das Thema zu einem gesellschaftlichen Dauerkonflikt werden kann – und damit zum Spielball wechselnder politischer Mehrheiten. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass der Status quo dann verändert werden sollte, wenn dies von einer stabilen Mehrheit von nur ihrem Gewissen verpflichteten Parlamentarierinnen und Parlamentariern auch unabhängig von aktuellen parteipolitischen Mehrheiten und über Wahlperioden hinweg befürwortet wird. Auch angesichts der breiten Mehrheit unter den Wählerinnen und Wählern aller Parteien, die in repräsentativen Umfragen mittlerweile eine Änderung des 30 Jahre alten rechtlichen Status quo befürwortet, sind wir sicher, dass auch im 21. Deutschen Bundestag Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktionen der demokratischen Mitte ernsthaft und nur ihrem Gewissen verpflichtet um die Frage ringen werden.
Renata Alt MdB, Jens Brandenburg MdB, Friedhelm Boginski MdB, Anikó Glogowski-Merten MdB, Ulrike Harzer MdB, Gyde Jensen MdB, Dr. Ann-Veruschka Jurisch MdB, Konstantin Kuhle MdB, Dr. Thorsten Lieb MdB, Ria Schröder MdB, Anja Schulz MdB, Prof. Dr. Stephan Seiter MdB, Bettina Stark-Watzinger MdB, Johannes Vogel MdB und Nicole Westig MdB